Zeitschriftenbeitrag Común | Stadtteilbeiräte – ein Modell der Bürger:innenbeteiligung?

Wie sich die Hamburger Sanierungsbeiräten der 1970er Jahre als Quartiers- und Stadtteilbeiräte zu einem umkämpften Korrektiv der Politik entwickelten

Von Michael Joho

Vor einem Jahr hätte ich noch uneingeschränkt für Stadtteilbeiräte als ein Beteiligungsmodell von unten plädiert. Aufgrund der faktischen Auflösung des Stadtteilbeirats St. Georg durch den zuständigen Bezirk Hamburg-Mitte – genauer die dort regierende konservative »Deutschlandkoalition« aus SPD, CDU und FDP – bin ich ernüchtert. Im Zweifelsfall würgt die etablierte Politik einen allzu kritischen Beirat einfach ab, auch wenn er der älteste Hamburgs (seit 1979) und zudem der bestbesuchte (mit bisweilen 100 Teilnehmer:innen) war. Aber fangen wir vorne an.

Vor dem Hintergrund einer in Bewegung geratenen Gesellschaft ab Mitte der sechziger Jahre und der Brandt‘schen Formel „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ entwickelten sich in den siebziger Jahren allenthalben Bürgerinitiativen, mal gegen Flughafenlärm, mal gegen Fahrpreiserhöhungen, aber immer nur als Ein-Punkt-Initiativen. Mit dem 1971 verabschiedeten Städtebauförderungsgesetz wurde dem gnadenlosen Abriss von Altbauquartieren entgegengewirkt, stattdessen gab es nun Sanierungsgebiete, für die erstmals auch ein gewisses Maß an Bürger:innenbeteiligung vorgeschrieben war. So entstanden Sanierungsbeiräte, der erste in Hamburg Ende 1979 in meinem Stadtteil St. Georg. Sie ermöglichten über die beteiligten Gruppen – Anwohner:innen, Gewerbetreibende, Mieter:innen, Grundeigentümer:innen usw. – erstmals eine regelmäßige Mitsprache bei allen das jeweilige Gebiet betreffenden Fragen.

Vom Sanierungsbeirat zum Stadtteilbeirat

Nehmen wir das Beispiel des Beirats im Hamburger Hauptbahnhofviertel St. Georg. Fast von Anfang an verstand er sich nicht nur als Sprachrohr für das engere Sanierungsgebiet »Lange Reihe S1«, sondern er nahm sich, sehr zum Ärger der Kommunalpolitik, heraus, vielerlei Anliegen des gesamten Stadtteils zu thematisieren. Als es Ende 1989 hieß, die Sanierung im Gebiet S1 liefe bald aus und auf einer Jubiläumsveranstaltung verkündet werden sollte, dass damit auch der Sanierungsbeirat seine Aufgaben erfüllt hätte, regte sich massiver Protest. Rund 300 St. Georger:innen rangen dem SPD-Vertreter die Zusage einer neuen Beteiligungsstruktur ab, wenn es denn schon keinen Sanierungsbeirat mehr geben würde. Das war damals die Geburtsstunde eines am Bezirk Hamburg-Mitte angedockten Stadtteilbeirats, zugleich aber auch des Gedankens, dass eine einmal institutionalisierte Bürger:innenbeteiligung nicht einfach deswegen endet, weil irgendein Programm ausläuft. Aufrechterhalten wurde die Finanzierung des Gremiums über viele weitere Jahre dadurch, dass St. Georg immer wieder in ein neues Förderprogramm rutschte. 2015 sollte damit allerdings endgültig Schluss sein, da der Stadtteil definitiv aus der letzten Förderung durch das „Rahmenprogramm integrierte Stadtteilentwicklung“ (RISE) herausfiel. 2014 wurde die Zahl der jährlichen Sitzungen von zehn auf fünf reduziert, ab 2015 sollte dann jegliche Unterstützung durch die Bezirksverwaltung ausbleiben, sowohl hinsichtlich der Finanzierung, Protokollführung und Moderation als auch überhaupt der Teilnahme von Vertreter:innen der Bezirksverwaltung. Die SPD Hamburg-Mitte prägte damals das Unwort von „selbsttragenden Strukturen“ des zukünftigen Beirats, also von selbst organisierten Sitzungen ohne finanzielle Unterstützung und ohne regelhafte Beteiligung von Bezirksamt und -politik. Der Widerstand gegen diesen erneuten Versuch der Auflösung des Gremiums war erfolgreich und führte in Hamburg dazu, dass inzwischen die meisten Beiräte auch nach Auslaufen der RISE-Förderung fortgeführt wurden. Dafür muss allerdings alljährlich ein Antrag gestellt und von der in den sieben Hamburger Bezirken regierenden Koalition angenommen werden, um entsprechende Mittel in der Höhe von einigen tausend bis 15.000 Euro pro Beirat aus dem Quartiersfonds zu generieren. Von einer planbaren, gar dauerhaften finanziellen Förderung und einer rechtlichen Absicherung war und ist das weit entfernt.

50 Gremien, die sich regelmäßig, meist im Ein- oder Zweimonatsrhythmus, treffen und an die 1.000 Stadtteilaktive zusammenführen. Es gibt nichts Vergleichbares in Hamburg, keine andere Beteiligungsform bringt über Jahre, teilweise über Jahrzehnte, so viele Menschen zusammen, wie eben die Beiräte.

Immerhin, es gibt sie also, diese Quartiers- und Stadtteilbeiräte, und das in rund 50 Gebieten, die irgendwann einmal in das eine oder andere Förderprogramm aufgenommen wurden oder noch darin stecken. 50 Gremien, die sich regelmäßig, meist im Ein- oder Zweimonatsrhythmus, treffen und an die 1.000 Stadtteilaktive zusammenführen. Es gibt nichts Vergleichbares in Hamburg, keine andere Beteiligungsform bringt über Jahre, teilweise über Jahrzehnte, so viele Menschen zusammen, wie eben die Beiräte. Das übersteigt in dieser Kontinuität jedes einzelne Beteiligungsverfahren zu einem bestimmten Anliegen. Bei den betreffenden Quartieren handelt es sich zu einem Gutteil um solche, die nicht gerade verwöhnt sind von der öffentlichen Wahrnehmung, die vielmehr mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert sind.

Zumeist ist es ein Stamm von Beiratsteilnehmenden, der als Team von Expert:innen des Quartiers zusammenkommt und oftmals die zentrale Säule der Stadtteildemokratie darstellt. Anlassbezogen kommen oft weitere Interessierte dazu, wenn irgendein konkretes Problem auftritt oder für eine bestimmte Forderung mobilisiert wird. Die Palette der behandelten Themen ist breit und vorrangig von den spezifischen Verhältnissen des Quartiers abhängig. Es gibt aber selbstverständlich auch übergreifende, viele Menschen und Viertel gleichermaßen berührende Entwicklungen, zum Beispiel wenn es um die Wohnungspolitik oder die Klimakatastrophe geht. Den Austausch darüber organisiert das 2009 gegründete »Netzwerk Hamburger Stadtteilbeiräte«. Etwa im sechswöchigen Turnus lädt ein Lenkungskreis zu einer informellen Zusammenkunft ein, um über aktuelle Themen der Stadt(teile) und die Situation der Beiräte zu diskutieren. Rund die Hälfte der hamburgischen Beiratsgremien sind hier eingebunden. Richtungsweisend war eine Tagung des Netzwerks Ende April 2013 mit weit über 100 Teilnehmer:innen. Der Titel des Aktionstages machte klar, welchen Stellenwert sich die Stadtteilrecken selber zumessen: „Nur mit uns!“.

St. Georg tickt anders

Noch einmal zurück zum Stadtteilbeirat St. Georg, der sich in den vergangenen Jahren zu einem zumindest vom Selbstverständnis her autonomen Gremium gemausert hatte. Selbstbewusst stellte er auf jeder der verknappten Sitzungen Anträge, forderte Maßnahmen gegen die Verdrängung der Wohnungs- und „kleinen“ Gewerbemieter:innen ein, protestierte gegen überbordende Hotels, Eigentumswohnungen und die Vertreibung der Obdachlosen, hatte aber ebenso die „kleineren“ Themen parat, wie zum Beispiel die Einbenennung eines Weges nach Inge Stolten (als einer von drei Frauennamen gegenüber 31 Ortsbezeichnungen mit männlichem Namen) oder die Wiederinbetriebnahme einer Solaruhr auf einem Platz an der Langen Reihe. Genau das war jahrzehntelang das Salz in der Suppe: Stadtteilmeinung zu fokussieren, organisierte Beteiligungsstrukturen zu nutzen, in die auch Verwaltung und Politik einbezogen sind und die regelmäßig stadtteilbezogene Informationen liefern, Rede und Antwort einfordern und Anträge formulieren, auf die die Bezirkspolitik reagieren muss. Und genau das wurde für die etablierte Bezirkspolitik und -verwaltung in den vergangenen Jahren zu einer nervenden Herausforderung, weil der Beirat dem Bezirk mit seinen Beschlüssen Arbeit machte und die Bezirksgranden aus SPD, CDU und FDP unter Druck setzte. Nun muss mensch wissen, dass das Szeneviertel St. Georg anders tickt als der Bezirk Mitte, in dem es liegt: Bei den letzten Wahlen zu den sieben Bezirksversammlungen im Mai 2019 kamen in St. Georg die GRÜNEN auf 39,6 % und die LINKE auf 16,1 %, also auf weit mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Im Bezirk Mitte erhielt die SPD gerade mal 20,9 %, die CDU 11,6 % und die FDP 6,5 % – und erst durch den Übertritt von sechs grünen Mandatsträger:innen zur SPD konnte diese überhaupt erst eine Bezirkskoalition auf die Beine stellen. Hier gibt es also ein deutliches Gefälle. Seine vordemokratische Haltung zu diesem Gefälle brachte der Bürgerschaftsabgeordnete und örtliche Bürgervereinsvorsitzende Markus Schreiber (SPD) auf den Punkt, als er im Juli 2022 meinte, der Beirat solle gefälligst die Mehrheit in der Bezirksversammlung akzeptieren und diese mit seinen Forderungen nicht immer wieder infrage stellen (▷ Zeitung des Bürgervereins zum Thema Stadtteilbeirat). Merke: Partizipation in einem Stadtteil hat sich nach diesem Verständnis an den Mehrheitsbeschlüssen auf Bezirksebene zu orientieren – und mehr nicht.

Das ist sicherlich der Kernpunkt, der die »Deutschlandkoalition« am 31. Januar 2023 dazu bewogen hat, den Stadtteilbeirat St. Georg de facto aufzulösen und bis zu seiner „Neuausrichtung“ alle bereits vereinbarten fünf Sitzungstermine zu canceln. Seitdem gibt es eine Hängepartie, aber es schält sich heraus, dass das kommende Gremium anders sein wird: Mit nochmals halbierter Sitzungfrequenz, geringerer Beteiligung, der Verdrängung aktiver Bewohner:innen und der Reduzierung auf einen Antrag pro Veranstaltung.

Insofern stelle ich die Frage nach einer autonomen, selbstbewussten Interessenvertretung auf Stadtteilebene im Rahmen eines städtisch-parlamentarisch geprägten und von konservativen Kräften dominierten „Modell“ Stadtteilbeiräte neu. Zumindest für St. Georg. Und das nach Jahrzehnten erfolgreichen Wirkens wenigstens in der Hinsicht, ausdiskutierte und beschlossene „Stadtteilmeinung“ in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Regelmäßig.