Kandidaten abgelehnt und Tagungsrecht entzogen
Mit großem Befremden hat das Netzwerk Hamburger Stadtteilbeiräte die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den politischen Gremien und den Stadtteilbeiräten in
Wilhelmsburg und St. Georg zur Kenntnis genommen, die auch in Artikeln der Hamburger
Morgenpost (2.2.23) und des Hamburger Abendblattes (3.2.) Berücksichtigung fanden.
Beiräte erwachsen in ihrer Geschichte aus Förderprogrammen des Bundes oder der FHH.
Im Laufe der Förderprogramme übernehmen sie eine wichtige vermittelnde Funktion in der Umsetzung der Programminhalte und schaffen gleichzeitig eine Basis für die Kommunikation innerhalb der Stadtteile.
Dieser Prozess führt fast ausnahmslos dazu, dass sich die Beiräte in ihrem Selbstverständnis zu einem zentralen Organ der stadtteilinternen Meinungsbildung entwickeln und vor Ort ein hohes Maß an Kontinuität in der vor allem ehrenamtlichen Mitarbeit generieren.
Menschen aus den Quartieren erkennen, dass gerade in dieser Organisationsform eine
Mitgestaltung der Stadtteilentwicklung möglich ist und schließen sich den Beiräten an.
Darüber hinaus sind die Teilnehmenden Seismographen oder auch Ohr am Quartier und
transportieren Inhalte, die von Menschen artikuliert werden, die sich nicht in eine solche
Struktur einfügen möchten, in den Beirat.
Im Verlauf der Förderperioden werden die Stadtteilbeiräte immer vertrauter mit den
komplizierten Aushandlungsprozessen zwischen Politik, Verwaltung und Quartier und
gewinnen darin zusehends Gewicht und Selbstbewusstsein. Dies führt dazu, dass sie zu einer zunehmend unabhängigen Institution werden, sich als Bürgervertretungsgremium verstehen und entsprechend auftreten.
In den allermeisten Beiräten gibt es für eine stimmberechtigte Mitgliedschaft inzwischen
keine Wahlvorgänge mehr, sondern über eine regelmäßige Teilnahme wird man zu einem
Vollmitglied. Das heißt auch, dass es keine zahlenmäßigen Beschränkungen für die
Quartiersbewohnerschaft mehr gibt. Und genau dies ist auch das Interesse der Beiräte,
nämlich so viel wie möglich Interessierte und Engagierte für die Mitarbeit im Beirat zu
gewinnen.
Dies ist gleichbedeutend mit einer Entkoppelung der Beiräte von politischer oder verwaltungsmäßiger Einflussnahme auf die Selbstorganisation der Beiräte. Ihre Qualität besteht in der Unabhängigkeit von eben solcher und nur so können sie ihre Aufgabenstellung einer offenen, unparteiischen Meinungsbildung und der Organisierung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten für die Entwicklung der Quartiere erfüllen.
Die Stärke der Beiräte liegt darin, dass dort nicht Parteipolitik praktiziert wird, dass dort keine politischen Mehrheitsverhältnisse abgebildet werden, sondern dass Aushandlungsprozesse auf Basis des Engagements und der Verantwortlichkeit für einen Stadtteil ausgefochten werden. Und diese benötigt keine Legitimation von politischen Ausschüssen, seien es Regionalausschüsse oder der Cityausschuss. Ganz im Gegenteil, jede Form der Einflussnahme widerspricht dem Selbstverständnis der Beiräte und gefährdet ihre Unabhängigkeit von Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung.
Beiräte wissen darum, dass sie politisch nicht legitimiert sind („politisch nicht legitimiertes
Teilvolk“ – Dr. Michael Freitag, Referent für Bürger:innenbeteiligung in der BWFGB) und nicht unmittelbare Entscheidungsbefugnisse haben, aber aufgrund der sehr vielfältigen
Zusammensetzung trifft sich dort ein hohes Maß an Stadtteilexpertise, die für die
Entwicklungsprozesse von unschätzbarem Wert ist.
Es ist Aufgabe von Politik und Verwaltung, Partizipation und selbstbewusste, unabhängige
Beiräte ernst zu nehmen, diesen auf Augenhöhe zu begegnen und in ihrer Funktionsweise zu unterstützen, sich inhaltlich an den Diskussionsprozessen zu beteiligen und hernach die
Ergebnisse zu transportieren und einfließen zu lassen in die Entscheidungen in den
politischen Ausschüssen und in die Planungsprozesse der Verwaltung, nicht aber, deren
personelle Zusammensetzung, deren Tagungsrhythmus oder deren inhaltliche
Diskussionszuschnitte zu bestimmen. Dies wäre das vollkommene Verkennen von dem, was Beteiligung und zivilgesellschaftliche Organisierung ausmacht, nämlich Unabhängigkeit von politischem Proporz und Zwängen.
Die Mitarbeit in den Beiräten beruht allein auf der Motivation, sich für den eigenen Stadtteil
zu engagieren. Sie gilt dem Austausch unter vielfältigsten Akteur:innen und Interessenvertreter:innen auf der „untersten“ und damit dem Stadtteilherzschlag nächsten
Ebene mit dem Ziel einer Kompromissfindung bzw. einer Meinungsbildung, die jenseits von Individualinteressen sich Monat für Monat neu organisiert.
Dabei ist die Politik ein Teilnehmender, aber eben einer unter vielen und schon gar kein
bestimmender. Dort, wo sie dies sein möchte, widerspricht sie der DNA der Beiräte.
Dies wird in den Hamburger Bezirken durchaus geachtet und akzeptiert, so wie wir es aus
den Berichten im Netzwerk Hamburger Stadtteilbeiräte erfahren.
Eine dermaßen eklatante Einflussnahme in die Strukturgebung und personelle
Zusammensetzung einzelner Beiräte, im Falle von St. Georg bis hin zu einer Auflösung der
bisherigen Beiratsstruktur, euphemistisch umschrieben als Aussetzung bzw. Neuausrichtung, ist ein völlig inakzeptabler Eingriff in die Autonomie der Beiräte und unserer Kenntnis nach einmalig im Verhältnis zwischen Beiräten und Bezirkspolitik.
Das Netzwerk der Hamburger Stadteilbeiräte fordert die politischen Gremien in St. Georg
und Wilhelmsburg eindringlich auf, sich an der Praxis in den anderen Bezirken zu orientieren, die Beiräte als eigenständige Organisationsformen mit ihrer variablen, aber
selbstbestimmten Zusammensetzung zu akzeptieren und in ihrem unabhängigen Wirken zu unterstützen.
Konkret heißt das,
- den Stadtteilbeirat St. Georg in seiner bisherigen Form uneingeschränkt
fortzuführen, bis eine Neukonzeptionierung verabredet ist
sowie - Kandidaturen und Vertretungen von Ortsbereichen aus Sicht des Wilhelmsburger Beirats anzuerkennen und nicht durch parteipolitische Präferenzen und Beeinflussungen infrage zustellen.
Die Lenkungsgruppe des Netzwerks Hamburger Stadtteilbeiräte
c/o Stadtteilbüro Dulsberg