Presseerklärung vom 5.10.2023 | In Sorge um die weitere Entwicklung in St. Georg

Per Adresse Stadtteilbüro St. Georg, Hansaplatz 9, 20099 Hamburg

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  1. Seit seiner Gründung 1987 engagiert sich der alternative Einwohnerverein im Hamburger Hauptbahnhofviertel für das Mit- und Nebeneinander von Anwohner*innen, Gewerbetreibenden, hier arbeitenden und sich aufhaltenden Menschen, darunter vielen, die in Armut leben und gesellschaftlich ausgegrenzt sind.
  2. Ebenso lange erleben wir ein oftmals und über weite Strecken fragwürdiges bis kontraproduktives Umgehen des Bezirksamtes und des Senats mit diesem Stadtteil und seinen Menschen. Da war und ist der vor allem repressive Umgang mit benachteiligten Gruppen – den Drogenkonsument*innen in den neunziger Jahren und den auf der Straße Lebenden heutzutage. Da sind die kurzsichtigen, oft hilflos wirkenden Maßnahmen, um den Eindruck von Aktivität zu erwecken – nehmen wir die Kontaktverbotsverordnung oder die KI-gestützte Videoüberwachung. Da sind die übers Knie gebrochenen und über die Menschen und den Stadtteil hinweggehenden Maßnahmen; dafür seien als aktuelle Beispiele die faktische Auflösung des ältesten, allzu kritischen Stadtteilbeirats St. Georg im Januar 2023 und die jüngste Entscheidung, eine der stark frequentierten Lebensmittel-Ausgabestellen vorrangig für Obdachlose vom Hauptbahnhof an den Hansaplatz zu verlagern, angeführt.
  3. Es ist ein Affront sondergleichen, den Menschen in St. Georg, vor allem den BewohnerInnen am Hansaplatz, per Medienmeldung am 30. September mitteilen zu lassen, dass der Verein „Schau nicht weg“ seine wöchentliche Verteilaktion voraussichtlich schon ab dem 7. Oktober auf dem Hansaplatz aufnimmt. Ernstnehmen und Beteiligung sehen anders aus.
  4. Es ist vor allem ein Fauxpas, weil der Bezirk sich mit seiner polizeilichen Räumaktion der Lebensmittel-Verteilung am „Gabenzaun“ am Rande des Hachmannplatzes selbst unter Zugzwang gesetzt hat, auf die Schnelle neue Standorte für die ehrenamtlichen Helfer*innen zu benennen. Doch warum kriegt St. Georg ab, was der Bezirk(samtsleiter) verbockt hat?
  5. Der größte Fehler ist aber, als neuen Standort nun ausgerechnet den Hansaplatz – genauer, die Fläche vor dem Wohnkomplex der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter bzw. direkt vor der Seniorenbegegnungsstätte des Vereins „Lange Aktiv Bleiben“ – auserkoren zu haben. Ohne deren Beteiligung, ohne Diskussion im Stadtteil, ohne auch nur einen Schritt zur Führung des nötigen Dialogs unternommen zu haben. Was haben Bezirk und Senat in den vergangenen Jahren nicht alles getan, den Hansaplatz runterzumachen und runterzuschreiben – übrigens gegen unseren ebenso regelmäßigen Protest und das Beharren auf eine differenzierte Betrachtung der Problemlage.
  6. Der eigentliche Skandal ist aber, dass der Bezirk mit seiner dekretierten Maßnahme von einem in den neunziger Jahren – der Hochzeit der drogenpolitischen Auseinandersetzungen – getroffenen Agreement abweicht: Nämlich alle sozialen Einrichtungen und Angebote mit erheblicher Außen-Ansammlung am Hauptbahnhofgelände oder am Stadtteilrand, jedenfalls nicht mitten im Wohngebiet anzusiedeln. Dies entsprach der Erkenntnis, dass ein so belasteter Stadtteil wie St. Georg in der Übernahme sozialer Verpflichtungen nicht überstrapaziert werden darf, um einerseits die Versorgung benachteiligter Menschen dauerhaft zu garantieren (und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen), aber gleichzeitig die Akzeptanz und Toleranz der Wohnbevölkerung nicht aufs Spiel zu setzen. Denn dies wäre die schlimmste Entwicklung für alle Betroffenen: die Szene selbst, die sich zunehmender Aggressivität und Ablehnung ausgesetzt wird; die Bewohner*innen, die ihr soziales, mitfühlendes Herz versteinern sehen; eine politische Gemengelage, die nur den rechtesten Menschenfeinden nutzt.
  7. Wir bleiben dabei, und dies ist das Credo des Einwohnervereins seit seiner Gründung, die St. Georger*innen haben mit Phänomenen des Hauptbahnhofs zu leben – und wir tun dies auch seit vielen Jahrzehnten. Andererseits hat sich der Hauptbahnhof seiner sozialen Herausforderung und Verpflichtung zu stellen. Er ist nicht nur der Ein- oder Umsteigeort für Reisende, er ist auch ein Lebensmittelpunkt, ein zentrales Wohnzimmer für eine große Zahl ausgegrenzter, benachteiligter und vereinsamter Menschen. Das mag alles nicht schön (anzusehen) sein, aber es ist die Realität einer kapitalistischen Großstadt im 21. Jahrhundert. Stellt euch dem endlich, brecht mit dem Unwort der blütenweißen „Visitenkarte Hauptbahnhof“ – und verschiebt die Probleme nicht in die Wohnquartiere!
  8. Vor diesem Hintergrund erklären wir: Wir brauchen nicht noch mehr Konflikte, schon gar nicht am Hansaplatz, wir brauchen am Hauptbahnhof und an geeigneten unbewohnten Orten in der Nähe vielmehr vernünftige Angebote für die betroffenen Gruppen: für Obdachlose (viel mehr Housing First), für DrogenkonsumentInnen (ein zweites Drob Inn), für junge Geflüchtete (eine schnelle Arbeitserlaubnis, einen niedrigschwelligen Anlaufpunkt usw.).
  9. Zehntausende Euro sind in den letzten Jahren für allerlei Gutachten zu St. Georg ver-(sch)wendet worden, ohne sichtbare Verbesserungen zu bewirken. Stattdessen wird die in St. Georg umfassend vorhandene Stadtteilexpertise ignoriert oder – wie im Falle des Beirats – gleich in Gänze ausgeschaltet. Der einfache Austausch, der Dialog mit den Menschen des Stadtteils, seinen Gruppen und Gremien hätte auch für alternative Standortideen gesorgt. Wie wäre es, die Lebensmittel-Verteilaktion wenn schon nicht am Hauptbahnhof, so doch zumindest an anderer, geeigneter Stelle anzusiedeln und darüber mit allen zu sprechen? Wir schlagen beispielsweise die Kehre am Ferdinandstor, am unteren Ende des Inge-Stolten-Weges vor. Dort gibt es keine Wohnhäuser, keine Kinder- und Jugendeinrichtung, es ist viel Platz vorhanden und der Ort ist nur wenige Minuten vom Bieberhaus entfernt.
  10. Der völlig unsensiblen, unklugen und letztlich nach hinten losgehenden Entscheidung des Bezirks, den Hauptbahnhof in einem Teil aus seiner sozialen Verpflichtung zu entlassen und zugleich das Viertel St. Georg einmal mehr für die unzureichende und damit verfehlte Sozialpolitik heranzuziehen, muss nachhaltig widersprochen werden.