Alle Beiträge von Ulrich Gehner

Offener Brief der SOPI zur Obdachlosigkeit

Soziale und pädagogische Initiative St. Georg (SOPI)
            c/o Stadtteil Büro St.Georg – Hansaplatz 9 – 20099 Hamburg

Offener Brief vom 26.5.2023 

St. Georg solidarisch – Kernforderungen, um dem Phänomen der Obdachlosigkeit beizukommen

1,8 Km² – auf diese Fläche ist unser Viertel St. Georg bemessen. Auf dieser Fläche findet sich ein pulsierender Schmelztiegel, der sich vom Hauptbahnhof über die Lange Reihe, den Hansaplatz und den Steindamm bis zum Krankenhaus und zur Außenalster erstreckt. Die Diversität des Viertels zeichnet sich durch eine vielschichtige Bevölkerung, insbesondere auch eine bunte Gewerbe-, Kunst- und Kulturszene, durch etliche Gaststätten und Szenebars aus. Allerdings sind dies die gewöhnlich positiv bewerteten Bestandteile des Gemischs, welches im Schmelztiegel brodelt. Zur Stadtteilrealität gehört gleichzeitig, dass kaum irgendwo anders in Hamburg Reichtum und Armut auf so engem Raum aufeinandertreffen wie hier. Drogenkonsum, Sexarbeit, Obdachlosigkeit und soziale Entwurzelung sind ebenso Bestandteile des Viertels – auch wenn sie meist als negativ gebrandmarkt werden. Wir fordern, letzteren Phänomenen in einer Art und Weise beizukommen, die sozial verträglich ist und nicht primär auf Repression und Verdrängung setzt. Wir haben aber zugleich auch die Belastungen der Menschen – vorrangig der 12.000 hier Wohnenden, aber auch der im Hauptbahnhofviertel rund 40.000 Arbeitenden – vor Augen. Auch ihre Interessen und Bedürfnisse, ihre Sorgen und Nöte gilt es zu berücksichtigen, um eine lebenswerte, gemeinsam getragene, solidarische Lebens- und Stadtteilwelt zu schaffen.

2030 – bis zu diesem Jahr soll das Phänomen der Obdachlosigkeit laut Zielsetzung auch des Senats überwunden sein.[1] Um an diesem hehren Ziel mitzuwirken, haben wir als Soziale und pädagogische Initiativen St. Georg (Sopi) einen Forderungskatalog formuliert, der sich spezifisch auf die Gegebenheiten dieses Viertels bezieht, wohl wissend, dass das Phänomen der Obdachlosigkeit ein stadt(teil)übergreifendes ist.

Der größte Teil der Menschen, die in Hamburg obdachlos geworden sind, finden sich hier ein, weil sie sich ein Leben erhofft haben, dass ihnen Arbeit, Wohnraum und Zugang zu einem guten Gesundheitssystem gewährleisten kann.[2] Die alltägliche Realität der Menschen, die ohne Obdach leben (müssen), sieht jedoch ganz anders aus. Dabei zeigt die Erfahrung, dass bedingungslos bereitgestellter Wohnraum – im Sinne des international bereits erprobten Housing First Ansatzes – den Weg zu einem Leben ermöglicht, dass autonom und würdevoll gestaltet werden kann. Prävention und Intervention scheinen am erfolgreichsten zu funktionieren, wenn der Lebensentwurf und Sozialraum der Betroffenen respektiert wird.

Daher erachten wir es für notwendig, gerade auch vor Ort Möglichkeiten zu schaffen, die im Sinne einer umfassenden Vorbeugung und Unterstützung funktionieren. Das bedeutet, die Verhältnisse für Betroffene so zu strukturieren, dass sie möglichst niedrigschwellig darauf zugreifen können. Unseres Erachtens braucht es mehr stadteilbezogene Angebote, welche die Menschen so nutzen können, wie es ihrer Lebensrealität entspricht. Um diese strukturelle Unterstützung leisten zu können, brauchen die Menschen, die bereits ihren Lebensmittelpunkt in St. Georg haben, Möglichkeiten, unbürokratisch auf das Hilfesystem zugreifen zu können, um sich einen sicheren Hafen zu schaffen.

Daher fordern wir als Soziale und pädagogische Initiative St. Georg:

  • Bezahlbarer Wohnraum für alle Menschen St. Georgs!
  • Unbürokratischer, niedrigschwelliger Zugang zum Hilfesystem für Menschen ohne Leistungsanspruch!
  • Nachhaltige Lösungen statt Repression und Verdrängung!
     

Ergänzende Statements einzelner Mitglieder der SOPI:

 ragazza e.V.

Das ragazza ist eine Kontakt- und Anlaufstelle und ein Schutzraum für drogengebrauchende und der Sexarbeit nachgehende Frauen* in St. Georg. Unsere Besucherinnen* sind in erheblicher Weise von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen: nicht einmal ein Viertel der Frauen*, die in 2022 unsere Einrichtung besucht haben, verfügt über eine eigene Wohnung und ein Drittel ist akut obdachlos und lebt auf der Straße. Insbesondere die verdeckte Wohnungslosigkeit ist ein Phänomen, von dem Frauen* besonders häufig betroffen sind: Zur Abwendung der akuten Obdachlosigkeit kommen diese Frauen* vorübergehend bei Freund*innen, Bekannten* oder auch Freiern unter. Diese verdeckte Wohnungslosigkeit ist meist mit Abhängigkeitsverhältnissen verbunden und sexuelle Gegenleistungen sind ein häufiges „Zahlungsmittel“ für die Bereitstellung eines Bettes.

So gehören Wohnungs- und Obdachlosigkeit bei dem überwiegenden Teil unserer Besucherinnen* zu den drängendsten Problemlagen, deren Bearbeitung aber nur erschwert möglich ist. Drogenkonsumierende Frauen* haben in der Regel keine Chancen auf dem freien Wohnungsmarkt, auch die Vermittlung in Wohnunterkünfte und Notschlafangebote scheitert häufig. Die wenigen Notschlafstellen, die für drogengebrauchende Sexarbeiterinnen* infrage kommen, sind oftmals an ihren Auslastungsgrenzen. Aufgrund von Gewalterfahrungen, Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen gehören drogenkonsumierende und der Sexarbeit nachgehende Frauen* zu einer besonders vulnerablen Gruppe im Hilfesystem für wohnungslose Menschen, die besondere Bedarfe aufweist. Eine Unterbringung in Mehrbettzimmern ist für viele in ihrer Lebenssituation nicht erträglich und bestehende Angebote werden häufig nicht kontinuierlich aufgesucht. Dies erschwert wiederum den Zugang zu höherschwelligen Angeboten, da diese häufig über die Notschlafstellen vermittelt werden. Ohne eine gesicherte Wohnsituation wiederum ist eine Bearbeitung von komplexen Problemlagen und damit eine Stabilisierung der Lebenssituation der Frauen* häufig nicht möglich. So erschwert die Wohnungslosigkeit die weitere Hilfeplanung und trägt zu einer Verfestigung der prekären Lebenslagen bei.

Sperrgebiet

Das Sperrgebiet, Fachberatungsstelle Prostitution in Hamburg, ist seit den 1980iger Jahren eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Frauen* in der Sexarbeit, im Stadtteil St. Georg.

Durch eine Grundversorgung, wie z.B. Lebensmittelausgaben, die Kleiderkammer und die ärztliche Sprechstunde versorgt die Beratungsstellungsstelle somit vor allem Frauen* die im Stadtteil prekär leben und arbeiten.

Durch die allgegenwärtige Stigmatisierung und Diskriminierung des Arbeitsfeldes ist das Klientel auch in Bezug auf Wohnungslosigkeit in St. Georg besonders getroffen.

Öffentliche Unterbringungen werden meist, aufgrund von Angst vor Übergriffen und Outings des Berufes, nicht aufgesucht und frauenspezifische Alternativen sind kaum aufzutreiben.

Somit fordern wir:

  • Niedrigschwellige Unterbringungsmöglichkeiten für Sexarbeiter*innen
  • Zugänge mit Hilfesystem, auch für Menschen ohne Leistungsansprüche


BASIS-Projekt (Anlaufstelle für Mann-männliche Sexarbeiter*innen)

Mann-männliche Sexarbeiter*innen existieren in der öffentlichen Wahrnehmung nicht und sind aufgrund ihrer Tätigkeit, sexueller Identität und Herkunft häufig Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt. Insbesondere Sexarbeiter*innen mit einer Trans* oder nicht binären Identität nutzen selten die bestehenden öffentlichen Unterkunftsmöglichkeiten, da sie sich dort nicht akzeptiert und geschützt fühlen. Sexarbeiter*innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern haben ihren Lebensmittelpunkt oftmals bereits seit vielen Jahren in Hamburg, aber keine Zugänge zu einer stabilen und langfristigen Unterkunft, da keine Leistungsansprüche bestehen. Sie leben hier, fallen aber aufgrund fehlender Ansprüche durch das soziale Sicherungssystem. Trotzdem bleiben sie in Hamburg und leben hier unter sehr prekären Lebensumständen auf der Straße, häufig mit massiven gesundheitlichen Problemen. Sexarbeiter*innen mit Leistungsansprüchen fallen wiederrum durch ihre multiplen Problemlagen und Bedarfe durch das bestehende Hilfesystem, da sie ihre Tätigkeit selten offen thematisieren, weil sie die Folgen fürchten.

Daher fordern wir:

  • Altersunabhängige und längerfristige Unterkunftsmöglichkeiten für Menschen in der Sexarbeit!
  • Einen niedrigschwelligen Zugang zu bestehenden Unterkunftsangeboten und eine Erweiterung der geschützten Bereiche!
  • Zugänge zum Regelsystem, insbesondere eine kostenlose Krankenversicherung für Menschen ohne Ansprüche!

Einwohnerverein St. Georg von 1987 e.V.

Was den Drogenkonsument:innen hilft, das entlastet auch das Hauptbahnhofviertel! Mit dieser Erkenntnis haben wir in den 1990ern ein Jahrzehnt lang Drogenpolitik betrieben. Und mit dafür Sorge getragen, dass ein umfangreiches niedrigschwelliges Drogenhilfesystem geschaffen wurde. Es ist an der Zeit, eine ähnlich starke Kampagne auf den Weg zu bringen. Auch jetzt wieder heißt es, endlich mehr zu tun für die in St. Georg gestrandeten, verarmten, an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Menschen. Vor allem die Opfer der unübersehbaren Verelendung, die vermehrt aufkommenden bettelnden und hier quasi lebenden Bürger:innen bedürfen dringend nachhaltiger Unterstützung. Das heißt, dass sich Leistungs- und Hilfsangebote an den individuellen Lebensrealitäten und Bedürfnissen obdachloser Menschen orientieren müssen, weil sie tagtäglich in mehrfacher Hinsicht z. B. durch ihre Herkunft und Hautfarbe, ihrer Sucht, ihrem Geschlecht und/oder einer Behinderung von Diskriminierung und Ausgrenzung bedroht sind. Das zunehmend repressiv-verdrängende Vorgehen in der City lehnen wir dabei ab, es verschlimmert die Lage der Betroffenen und belastet zusätzlich die benachbarten Quartiere. Wir brauchen vielmehr eine wirkliche soziale und inklusive Wohnungspolitik, kurzfristig mehr kleine Notübernachtungsstätten und schnellere Schritte in Richtung auf eine Beendigung der Wohn- und Obdachlosigkeit – auch und gerade im Stadtteil St. Georg. Housing first!

Johann-Wilhelm-Rautenberg-Gesellschaft e.V.

Seit 2005 bietet die jwrg e.V. mit dem Wohnhaus „Münze“ 16 obdachlosen Menschen mit psychischer Erkrankung eine Wohnung (eigenes Bad, Gemeinschaftsküche) mit unbefristetem Mietvertrag von Anfang an. Ergänzende Hilfen können, müssen jedoch nicht angenommen werden. Die jwrg e.V. bietet neben anderen Unterstützungsleistungen Eingliederungshilfe an der Schnittstelle soziale Teilhabe und Wohnungslosenhilfe an.

Ein Einzug in die „Münze“ bedeutet meistens nach langer Zeit endlich wieder dauerhaft ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Einzug bedeutet i.d.R. aber auch ein jahrelanger Verbleib in der Münze, denn der Auszug in eine andere Wohnung gelingt Menschen mit langjähriger Erfahrung in Obdachlosigkeit und mit psychischer Erkrankung nur selten, da bezahlbarer Wohnraum knapp und die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt groß ist.

Die Nachfrage nach einem Angebot wie der „Münze“, das obdachlosen Menschen mit multikomplexen Problemlagen eine Perspektive bietet, ist immens. Gleichzeitig entsteht in St. Georg und Umgebung jedoch seit Jahren ein Hotel nach dem Anderen und große Gebäudekomplexe werden aufgekauft, um jahrelang leer zu stehen.

Im März 2023 startete die jwrg e.V. mit dem vom Deutschen Hilfswerk finanzierten Projekt „Housing 1st Rautenberg“. In drei Jahren wollen wir 15 obdachlosen Menschen mit multiplen Problemlagen in Wohnraum bringen. Wir wollen dazu beitragen, dass Housing First Prinzip in der Stadt zu etablieren, so wie es auch schon in vielen anderen Großstädten Europas gelungen ist.

Wir fordern deshalb:

  • Freie Liegenschaften der FHH für niedrigschwellige Wohnprojekte zur Verfügung zu stellen (z.B. leerstehende Gebäude nutzen)
  • Entstehung von bezahlbaren Quartieren mit einer fixen Quote von Wohnungen, die obdachlosen Menschen angeboten werden
  • Übernahme des Housing First Prinzips (unbefristeter Wohnraum für obdachlose Menschen von Anfang an, freiwilliges Angebot flankierende sozialarbeiterische Unterstützung) in die Regelfinanzierung
  • Unbürokratische Lösungen für den Zugang zum Hilfesystem für alle Menschen – ob mit oder ohne Leistungsanspruch

[1] https://www.agfw-hamburg.de/download/AGFW-Eckpunkte_Aktionsplan-Ueberwindung- Wohnungsloskeit.pdf

[2] https://www.hamburg.de/contentblob/12065738/5702405ed386891a25cdf9d4001e546b/data/d-obdachlosenstudie-2018.pdf

Positionspapier zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats

Das sind die Punkte, die der Einwohnerverein auf der vom Bezirk einberufenen Versammlung zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats St. Georg am 5. April einbringen will:

Positionspapier zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats St. Georg
anlässlich der Bezirk-Mitte-Veranstaltung am 5.4.2023 in der Paula

  1. Wir sprechen uns für einen selbstbewussten, starken Stadtteilbeirat aus, der als Säule der Stadtteildemokratie die Interessen und Bedarfe der St. GeorgerInnen diskutiert, zusammenfasst und per Antrag an die entsprechenden Stellen (Bezirk, Senat…) weiterreicht.
  2. Ernst gemeinte, demokratische Beteiligung setzt bestimmte Standards voraus:
  3. * jährlich 10 Sitzungen, auch gerne etwas kürzer,
    * professionelle Moderation,
    * professionelle Protokollführung,
    * regelmäßige Beteiligung von Bezirksamtsvertreter:innen,
    * darüber die Weiterverfolgung der Beiratsanliegen und -beschlüsse.
  4. Wir wollen keine Verkleinerung des Stadtteilbeirats mit seinen bisher 18 stimmberechtigten Mitgliedern. Eher kann daran gedacht werden, diese Zahl zu erhöhen oder ggfs. – wie in vielen anderen Beiratsgremien üblich – alle Anwesenden als stimmberechtigt zu betrachten, wenn sie – sagen wir – dreimal auf einer Beiratssitzung zugegen waren. Dieser Punkt ist ebenso diskutabel, wie die Idee, dass BezirkspolitikerInnen auf der Beiratssitzung kein Stimmrecht haben, da sie ja die Haltung des Stadtteils kennenlernen sollen, um darüber auf bezirklicher Ebene dann weiterzuverhandeln.
  5. Wir wollen und benötigen eine aktive Beteiligung von BezirksamtsvertreterInnen, die auch regelmäßig über stadtteilbezogene Entwicklungen informieren und die Umsetzung der Empfehlungen verfolgen Das vom Bezirk laut Beschluss des Hauptausschusses vom 31.1.2023 anvisierte „Ziel selbsttragender Strukturen“, also die „Übernahme vollständiger Eigenverantwortung“ in dem vom Bezirk gemeinten Sinne lehnen wir ab.
  6. Wir wollen keine Verkleinerung des Stadtteilbeirats mit seinen bisher 18 stimmberechtigten Mitgliedern. Eher kann daran gedacht werden, diese Zahl zu erhöhen oder ggfs. – wie in vielen anderen Beiratsgremien üblich – alle Anwesenden als stimmberechtigt zu betrachten, wenn sie – sagen wir – dreimal auf einer Beiratssitzung zugegen waren. Dieser Punkt ist ebenso diskutabel, wie die Idee, dass BezirkspolitikerInnen auf der Beiratssitzung kein Stimmrecht haben, da sie ja die Haltung des Stadtteils kennenlernen sollen, um darüber auf bezirklicher Ebene dann weiterzuverhandeln.
  7. Der Gewinnung neuer Besucher:innen – insbesondere aus den Bereichen unterrepräsentierter Gruppen wie MigrantInnen, junge Menschen usw. – stehen wir natürlich positiv gegenüber.
  8. Der Beirat muss in seiner Schwerpunktsetzung und Themenfindung selbstverständlich autonom entscheiden können. Eine Beschränkung seiner Themen – in der Formulierung des Hauptausschusses vom 31.1.2023 wird das mit den Worten „Konzentration auf Aufgaben in der Stadtentwicklung“ umschrieben – lehnen wir ab.
  9. Die Praxis, Beschlüsse des Stadtteilbeirats lediglich „zur Kenntnis zu nehmen“, widerspricht dem Ernstnehmen engagierter Beiratsarbeit und -ergebnisse und führt auch die Entscheidungskompetenz des Bezirks ad absurdum. Wir wollen klare Stellungnahmen.
  10. Eine neue Geschäftsordnung brauchen wir nicht, für die Aushandlung der alten, also gültigen haben wir ein Jahr benötigt. Angezeigt sind allenfalls redaktionelle Änderungen. Die womöglich beabsichtigte Streichung des bisherigen Passus, in dem dem Beirat die Möglichkeit von Statements an die diejenigen Stellen und Akteur:innen eingeräumt wird, die er für angemessen hält, lehnen wir ab.
  11. Eine weitere Debatte oder gar eine Beschlussfassung über einen „neu ausgerichteten“ Beirats darf es ohne Beteiligung des bisherigen Stadtteilbeirats nicht geben. Es ist mehr als nur eine einmalige Diskussion und Ideensammlung nötig, um eine „Neuausrichtung“ des ältesten Hamburger Gremiums dieser Art mit den vor Ort engagierten Menschen auf Augenhöhe zu vereinbaren.

Einwohnerverein St. Georg von 1987 e.V.

Pressemitteilung zur Auflösung des Stadtteilbeirats

Einwohnerverein St. Georg von 1987 e.V.
Per Adresse Stadtteilbüro St. Georg, Hansaplatz 9, 20099 Hamburg
www.ev-stgeorg.de   –   info@ev-stgeorg.de –   Mobil 0160/91 48 10 27

 Presseerklärung vom 1.2.2023:
Auflösung des Stadtteilbeirats St. Georg – ein Schlag gegen die Bürger:innenbeteiligung

Es ist unglaublich: Mit einem Federstrich hat gestern Abend der Hauptausschuss der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP den Stadtteilbeirat St. Georg für aufgelöst erklärt, ohne jede Ankündigung, ohne jegliche Beteiligung der AkteurInnen. Dieser dreiste Schritt ist einmalig in der Geschichte der hamburgischen Stadtteilbeiräte und rundet das höchst fragwürdige Bild eines Verständnisses der „Bürgerbeteiligung“ ab, das schon vor längerem zur Halbierung der jahrzehntelang gewohnten Sitzungen auf nur noch fünf pro Jahr geführt hatte und nun also mit der Liquidation endet. Damit hat die sog. Deutschlandkoalition den ältesten (seit 1979) und bestbesuchten Stadtteilbeirat Hamburgs (zwischen 50 und 100 vor Corona, seitdem zwischen 40 und 70 TeilnehmerInnen) kurzerhand ausgeschaltet, schon die vereinbarte nächste Sitzung am 22. Februar findet nicht mehr statt, um jegliche Diskussion oder Proteste des Beirats zu verhindern.

Dieser Beirat hat sich in den vergangenen Jahren mit seinen Themen immer wieder als unabhängige Interessenvertretung des Stadtteils begriffen und betätigt. Er hat regelmäßig die vielschichtigen St. Georger Anliegen und Forderungen in den Mittelpunkt gestellt und sich nicht auf die vordemokratische Haltung beschränken lassen, der Beirat solle die bezirklichen „Mehrheitsverhältnisse akzeptieren“ und durch seine Beschlüsse „nicht immer wieder in Frage“ stellen (so ein SPD-Bürgerschaftsabgeordneter in den „Blättern aus St. Georg“ 7/2022). Es ist schier eine Verdrehung der Tatsachen, wenn in der bezirklichen Drucksache 22-3516 (s. Anhang) als Hauptgrund für die Auflösung angegeben wird, der Beirat habe Zeit lediglich „in sehr kleinteilige oder sehr globale Themen investiert“. Die Anträge beispielsweise des Einwohnervereins (s. die Liste hinten) sprechen eine ganz andere Sprache, sie machten allerdings Arbeit und haben auch immer wieder Unzulänglichkeiten von Bezirkspolitik und -verwaltung in den Fokus gerückt.

Nach dem Willen der Deutschlandkoalition und der Abwicklung des bisherigen Beirats soll ein Konzept für eine „Neuausrichtung“ erarbeitet werden, ohne Beteiligung des Beirats oder der Menschen vor Ort, mit dem Ziel einer anderen, verkleinerten Zusammensetzung. Gegen noch mehr Beteiligung und Formate, die einen noch größeren Kreis ansprechen, ist ja gar nichts einzuwenden. Aber wenn als erster Schritt die bestehende Beteiligung ausgehebelt und stillgelegt wird, weckt das – gelinde gesagt – Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vorhabens. Den ganzen Vorgang empfinden wir nicht nur als skandalös und respektlos gegenüber den vielen, seit etlichen Jahren ehrenamtlich Aktiven im Stadtteil, sondern es steht jetzt auch ein zahmer Beirat zu befürchten, der – entsprechend besetzt – gefälligst alle Kritik am Bezirk unterlässt. Alles in allem, ein doppelter Schlag gegen Partizipation, den wir nicht hinnehmen.

Michael Joho (Mobil 0160 / 91 48 10 27)
Vorsitzender des Einwohnerverein St. Georg
Mitglied des Stadtteilbeirats seit den 1990er Jahren
Mitglied des Lenkungskreises Hamburger Stadtteilbeiräte

Liste der vom Einwohnerverein eingebrachten und vom Beirat beschlossenen Anträge im vergangenen Jahr – siehe dazu die Berichte über die jeweiligen Beiratssitzungen in der Stadtteilzeitung „Der lachende Drache“ Nr. 3, 5, 9, 10 und 12, einsehbar unter https://ev-stgeorg.de/drachen/:

  • Einbenennung eines Weges nach der in St. Georg aufgewachsenen Inge Stolten (23.2., Bericht im „Lachenden Drachen“ 3/2022)
  • Forderungen wider die anhaltende Gentrifizierung, Mietenexplosion und Verdrängung in St. Georg (27.4.)
  • Forderungen zum Schutz der inhabergeführten Geschäfte, speziell der rauswurfbedrohten Gewerbetreibenden in der Danziger Straße 47-51 (29.6.)
  • Konkrete Maßnahmen gegen die Energieverschwendung in St. Georg, z.B. nachts beleuchtete Bürohochhäuser und energiefressende Werbesäulen (28.9.)
  • Wiederinbetriebnahme der großen Uhr auf dem Carl-von-Ossietzky-Platz nach jahrelangem Ausfall (28.9.)
  • Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Obdachlosigkeit im Hauptbahnhofviertel, u.a. durch sofortige Aufstellung von Notcontainern (30.11.)
  • Erhalt des abrissbedrohten Hübener-Wandbildes im Helmuth-Hübener-Gang (30.11.)
  • Protest gegen die drohende Abrissgenehmigung des Wohnhauses Brennerstraße 80/82 wegen „Unwirtschaftlichkeit“, d.h. zu geringer Mieten nach jahrzehntelang unterlassener Instandhaltung (30.11.)

Bei Bedarf können wir die Anträge resp. Beschlüsse Interessierten zuschicken.

 

Antrag des Einwohnervereins St. Georg von 1987 e.V.
für die Sitzung des Stadtteilbeirats St. Georg am 30.11.2022

St. Georg, den 10.11.2022
St. Georg ist durch die Eröffnung des Hamburger Hauptbahnhofes 1906 zum „Hauptbahnhofviertel“ geworden. Wie in vermutlich allen Hauptbahnhofvierteln dieser Welt konzentrieren sich hier die Problemlagen einer sozial gespaltenen Stadt. Kaum anderswo treten Armut, Elend, Drogenkonsum, Obdachlosigkeit usw. deutlicher in Erscheinung als eben in unserem Stadtteil. Viele Jahre setzen sich St. GeorgerInnen nun schon mit diesen Phänomenen auseinander, erleben und erdulden sie, suchen aber auch nach Lösungen zur Verbesserung der Lage. Denn, so eine beispielhafte Grunderfahrung der drogenpolitisch bewegten 1990er Jahre, was den Drogenabhängigen nutzt und ihre Situation verbessert, das nutzt auch dem Hauptbahnhofviertel und dient der Entspannung seiner BewohnerInnen.

Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit stellen wir fest, dass es eine massive Verschärfung des Phänomens Obdachlosigkeit in St. Georg gibt. Das gilt nach unserer Wahrnehmung sowohl für die deutlich gewachsene Anzahl der sich im Hauptbahnhofviertel aufhaltenden und übernachtenden Obdachlosen wie auch für deren erkennbaren Grad der Verelendung. Hier bedarf es endlich geeigneter, schnell greifender und nachhaltiger Maßnahmen, gerade auch im Hinblick auf den bevorstehenden Winter, aber auch vor dem Hintergrund beträchtlich erhöhter Kosten z.B. für Lebensmittel und einer Inflationsrate von mittlerweile über zehn Prozent.

Zudem sei daran erinnert, dass nicht nur das EU-Parlament, sondern Ende 2021 auch der Hamburger Senat verkündet hat, die Obdachlosigkeit (in unserer Stadt) bis zum Jahre 2030 abzuschaffen. Bisher hat es in dieser Richtung allerdings keine erkennbaren Schritte gegeben, ganz im Gegenteil, wie oben angeführt nehmen die Obdachlosigkeit, die Verelendung und Begleiterscheinungen weiter zu.

Der Stadtteilbeirat St. Georg möge daher beschließen:

  1. Das Bezirksamt wird aufgefordert, in Zusammenarbeit mit dem Stadtteilbeirat und den örtlichen Initiativen zeitnah nach geeigneten Flächen für kleine Containereinheiten (für jeweils 2 bis 4 Wohn- und 1 Sanitärcontainer), Ausschau zu halten, um dort kurzfristig obdachlose Menschen unterzubringen. Selbstverständlich soll hier auch eine sozialarbeiterische Begleitung gewährleistet werden.
  2. Das Bezirksamt wird aufgefordert, insbesondere größere Parkplatzflächen (wie z.B. Sportspaß, das Gelände der katholischen Kirche, auf dem Einrichtungen geschlossen werden) daraufhin zu prüfen, ob hier weitere Möglichkeiten zur Aufstellung von Wohncontainern bestehen.
  3. Der Senat wird aufgefordert, das Ziel der Beseitigung der Obdachlosigkeit bis 2030 endlich mit einem durchdachten und mit der Zivilgesellschaft rückgekoppelten Aktionsplan anzugehen und dafür als erste Maßnahmen a) das zum 1. November 2022 wieder angelaufene Winternotprogramm auch tagsüber zu öffnen und b) überhaupt zu entfristen, also unbegrenzt weiterlaufen zu lassen. Das Ziel sollte dabei sein, öffentliche Notunterkünfte in dauerhafte, reguläre Wohneinheiten umzuwandeln.
  4. Der Senat wird aufgefordert, um dem Ziel der Überwindung der Obdachlosigkeit und der Schaffung eines neuen Zuhauses für die betroffenen Menschen schnell näher zu kommen, das Modellprojekt „Housing First“ mit zunächst lediglich 30 Wohnplätzen schnellstens in ein Regelprojekt zu überführen, da sich Housing First längst nicht nur in Finnland als erfolgreiches Prinzip erwiesen hat, die Obdachlosigkeit massiv zurückzufahren.
  5. Der Senat wird aufgefordert, den Anteil der neu gebauten Wohnungen für vordringlich wohnungssuchende Haushalte nochmals deutlich zu erhöhen.
  6. Senat und Bezirksamt werden aufgefordert, mehr Personal für den Wohnraumschutz bereitzustellen, um der gerade auch in St. Georg verbreitet festzustellenden Zweckentfremdung von Wohnraum (gewerbliche Nutzung von Wohnraum, Leerstand, Ferienwohnungen usw.) erheblicher intensiver nachgehen zu können.