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Solidarität mit allen Obdachlosen – Wohnungen statt Verdrängung und Ausgrenzung

Demonstration am Samstag, den 17.6.2023.

Beitrag von Michael Joho im Rahmen der Abschlusskundgebung auf dem Hansaplatz.

Seit Ende der achtziger Jahre rankt sich um den Einwohnerverein St. Georg und die sozialen Einrichtungen des Hauptbahnhofviertels der Widerstand gegen die allzu einfachen und damit falschen Vorstellungen der konservativen Kräfte. Und die lauteten – damals wie heute: Man müsse die „randständigen Gruppen“ einfach nur vertreiben, die allzu offensichtlichen Erscheinungen von Armut und Entwurzelung aus dem Blickfeld schaffen, um eine blütenweiße „Visitenkarte Hauptbahnhof“ zu schaffen.

Das Unwort der „Visitenkarte“ ist Mitte der neunziger Jahre unter sozialdemokratischer Senatsführung geboren worden. Es richtete sich damals vor allem gegen die Drogenkonsument:Innen, es meinte ihre Verdrängung vom Hauptbahnhofgelände – faktisch in die benachbarten Straßenzüge. Die Bürgerinnen und die Touristen sollten beim Verlassen der Anlage nicht gleich über obdachlose, bettelnde, arme, anschaffende Menschen stolpern. Die St. Georger Wohnbevölkerung spielte dabei nur eine nachgeordnete Rolle.

Gut zwei Jahrzehnte später ist das Modell der „Visitenkarte“ auf ganz St. Georg – vor allem auf den Hansaplatz – ausgeweitet worden.

  • Alle Sitzbänke sind abgebaut worden, damit sich ja niemand setzen kann, vor allem keine Obdachlosen. Irgendein Abgedrehter schlug sogar vor, den Hansabrunnen zu schleifen, damit sich Menschen nicht auf dessen Stufen niederlassen können.
  • Das Anbringen auch nur einer Schaukel – jawohl, einer Schaukel! – wird rigoros unterbunden.
  • Zweier-, Dreier-, Viererstreifen der Polizei und permanente Personenkontrollen von Alkoholkonsumierenden (natürlich nicht an den Bezahltischen), von anders Gekleideten, Black and People of Color, irgendwie anders Erscheinenden prägen das Bild.
  • Und die jahrelange, schon fast aus dem Alltagsbewusstsein geschwundene Videoüberwachung der Menschen soll jetzt durch den Einsatz „Künstlicher Allianz“ effektiviert werden.

Gemeinsam ist all diesen Punkten, überhaupt dem Konzept „Visitenkarte“, dass es sich gegen Menschen, gegen Betroffene, gegen eh schon an den Rand gedrängte Menschen richtet. Es richtet sich nicht gegen das System, das Armut, Verelendung und Vereinsamung überhaupt erst hervorbringt. Seit Jahren fordern wir z.B. eine niedrigschwellige Anlaufstelle für junge Geflüchtete im Hauptbahnhofumfeld. Nichts ist gekommen, gar nichts. Mit der Folge, dass viele ihren Lebensmittelpunkt genau hier auf und um den Hansaplatz haben, vor dem Hintergrund mieser Unterkünfte und fehlender Arbeits- und Betätigungsmöglichkeiten.

Ein aktueller Konflikt dreht sich u.a. um den Vorplatz des Drob Inn. Obwohl Bezirksamtsleiter Neubauer (SPD) angesichts des Elends der dort in großer Anzahl lagernden DrogenkonsumentInnen – rund drei Viertel davon obdachlos – einen weiteren Konsumraum vorschlägt – ein unbedingt beachtenswerter Vorschlag –, reagiert der hiesige Bürgervereinsvorsitzende Schreiber mit nichts anderem als der Forderung nach Kameras mit Künstlicher Intelligenz. Na wunderbar, mit den durch künstlicher Intelligenz aufgepeppten Videokamers das Drogenelend bekämpfen. Das nenne ich mal echt eine Lösung, die an die Wurzel geht!

Was den Drogenkonsument:innen hilft, das entlastet auch das Hauptbahnhofviertel! Mit dieser Erkenntnis haben wir in den 1990ern ein Jahrzehnt lang Drogenpolitik betrieben. Und mit dafür Sorge getragen, dass ein umfangreiches niedrigschwelliges Drogenhilfesystem geschaffen wurde. Es ist an der Zeit, eine ähnlich starke Kampagne für die Menschen auf der Straße in Gang zu bringen. Auch jetzt wieder heißt es aus unserer Sicht, endlich mehr zu tun für die in St. Georg gestrandeten, verarmten, an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Menschen.

Vor allem die unübersehbare Verelendung der Obdachlosen, das vermehrte Aufkommen von bettelnden und hier quasi auf der Straße lebenden Menschen bedarf dringend nachhaltiger Veränderungen, bedarf einer neuen, deutlich erhöhten Qualität an Unterstützung. Das heißt vor allem, dass sich Leistungs- und Hilfsangebote an den individuellen Lebensrealitäten und Bedürfnissen obdachloser Menschen orientieren müssen, weil sie tagtäglich in mehrfacher Hinsicht, z. B. durch ihre Herkunft und Hautfarbe, ihrer Sucht, ihrem Geschlecht und/oder einer Behinderung, von Diskriminierung und Ausgrenzung bedroht sind.

Das zunehmend repressiv-verdrängende Vorgehen in der City lehnen wir dabei eindeutig ab, es verschlimmert die Lage der Betroffenen und belastet zusätzlich die benachbarten Quartiere. Wir brauchen vielmehr eine wirkliche soziale und inklusive Wohnungspolitik, kurzfristig mehr kleine Notübernachtungsstätten und schnellere Schritte in Richtung auf eine Beendigung der Wohn- und Obdachlosigkeit – auch und gerade im Stadtteil St. Georg. Housing first!

Offener Brief der SOPI zur Obdachlosigkeit

Soziale und pädagogische Initiative St. Georg (SOPI)
            c/o Stadtteil Büro St.Georg – Hansaplatz 9 – 20099 Hamburg

Offener Brief vom 26.5.2023 

St. Georg solidarisch – Kernforderungen, um dem Phänomen der Obdachlosigkeit beizukommen

1,8 Km² – auf diese Fläche ist unser Viertel St. Georg bemessen. Auf dieser Fläche findet sich ein pulsierender Schmelztiegel, der sich vom Hauptbahnhof über die Lange Reihe, den Hansaplatz und den Steindamm bis zum Krankenhaus und zur Außenalster erstreckt. Die Diversität des Viertels zeichnet sich durch eine vielschichtige Bevölkerung, insbesondere auch eine bunte Gewerbe-, Kunst- und Kulturszene, durch etliche Gaststätten und Szenebars aus. Allerdings sind dies die gewöhnlich positiv bewerteten Bestandteile des Gemischs, welches im Schmelztiegel brodelt. Zur Stadtteilrealität gehört gleichzeitig, dass kaum irgendwo anders in Hamburg Reichtum und Armut auf so engem Raum aufeinandertreffen wie hier. Drogenkonsum, Sexarbeit, Obdachlosigkeit und soziale Entwurzelung sind ebenso Bestandteile des Viertels – auch wenn sie meist als negativ gebrandmarkt werden. Wir fordern, letzteren Phänomenen in einer Art und Weise beizukommen, die sozial verträglich ist und nicht primär auf Repression und Verdrängung setzt. Wir haben aber zugleich auch die Belastungen der Menschen – vorrangig der 12.000 hier Wohnenden, aber auch der im Hauptbahnhofviertel rund 40.000 Arbeitenden – vor Augen. Auch ihre Interessen und Bedürfnisse, ihre Sorgen und Nöte gilt es zu berücksichtigen, um eine lebenswerte, gemeinsam getragene, solidarische Lebens- und Stadtteilwelt zu schaffen.

2030 – bis zu diesem Jahr soll das Phänomen der Obdachlosigkeit laut Zielsetzung auch des Senats überwunden sein.[1] Um an diesem hehren Ziel mitzuwirken, haben wir als Soziale und pädagogische Initiativen St. Georg (Sopi) einen Forderungskatalog formuliert, der sich spezifisch auf die Gegebenheiten dieses Viertels bezieht, wohl wissend, dass das Phänomen der Obdachlosigkeit ein stadt(teil)übergreifendes ist.

Der größte Teil der Menschen, die in Hamburg obdachlos geworden sind, finden sich hier ein, weil sie sich ein Leben erhofft haben, dass ihnen Arbeit, Wohnraum und Zugang zu einem guten Gesundheitssystem gewährleisten kann.[2] Die alltägliche Realität der Menschen, die ohne Obdach leben (müssen), sieht jedoch ganz anders aus. Dabei zeigt die Erfahrung, dass bedingungslos bereitgestellter Wohnraum – im Sinne des international bereits erprobten Housing First Ansatzes – den Weg zu einem Leben ermöglicht, dass autonom und würdevoll gestaltet werden kann. Prävention und Intervention scheinen am erfolgreichsten zu funktionieren, wenn der Lebensentwurf und Sozialraum der Betroffenen respektiert wird.

Daher erachten wir es für notwendig, gerade auch vor Ort Möglichkeiten zu schaffen, die im Sinne einer umfassenden Vorbeugung und Unterstützung funktionieren. Das bedeutet, die Verhältnisse für Betroffene so zu strukturieren, dass sie möglichst niedrigschwellig darauf zugreifen können. Unseres Erachtens braucht es mehr stadteilbezogene Angebote, welche die Menschen so nutzen können, wie es ihrer Lebensrealität entspricht. Um diese strukturelle Unterstützung leisten zu können, brauchen die Menschen, die bereits ihren Lebensmittelpunkt in St. Georg haben, Möglichkeiten, unbürokratisch auf das Hilfesystem zugreifen zu können, um sich einen sicheren Hafen zu schaffen.

Daher fordern wir als Soziale und pädagogische Initiative St. Georg:

  • Bezahlbarer Wohnraum für alle Menschen St. Georgs!
  • Unbürokratischer, niedrigschwelliger Zugang zum Hilfesystem für Menschen ohne Leistungsanspruch!
  • Nachhaltige Lösungen statt Repression und Verdrängung!
     

Ergänzende Statements einzelner Mitglieder der SOPI:

 ragazza e.V.

Das ragazza ist eine Kontakt- und Anlaufstelle und ein Schutzraum für drogengebrauchende und der Sexarbeit nachgehende Frauen* in St. Georg. Unsere Besucherinnen* sind in erheblicher Weise von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen: nicht einmal ein Viertel der Frauen*, die in 2022 unsere Einrichtung besucht haben, verfügt über eine eigene Wohnung und ein Drittel ist akut obdachlos und lebt auf der Straße. Insbesondere die verdeckte Wohnungslosigkeit ist ein Phänomen, von dem Frauen* besonders häufig betroffen sind: Zur Abwendung der akuten Obdachlosigkeit kommen diese Frauen* vorübergehend bei Freund*innen, Bekannten* oder auch Freiern unter. Diese verdeckte Wohnungslosigkeit ist meist mit Abhängigkeitsverhältnissen verbunden und sexuelle Gegenleistungen sind ein häufiges „Zahlungsmittel“ für die Bereitstellung eines Bettes.

So gehören Wohnungs- und Obdachlosigkeit bei dem überwiegenden Teil unserer Besucherinnen* zu den drängendsten Problemlagen, deren Bearbeitung aber nur erschwert möglich ist. Drogenkonsumierende Frauen* haben in der Regel keine Chancen auf dem freien Wohnungsmarkt, auch die Vermittlung in Wohnunterkünfte und Notschlafangebote scheitert häufig. Die wenigen Notschlafstellen, die für drogengebrauchende Sexarbeiterinnen* infrage kommen, sind oftmals an ihren Auslastungsgrenzen. Aufgrund von Gewalterfahrungen, Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen gehören drogenkonsumierende und der Sexarbeit nachgehende Frauen* zu einer besonders vulnerablen Gruppe im Hilfesystem für wohnungslose Menschen, die besondere Bedarfe aufweist. Eine Unterbringung in Mehrbettzimmern ist für viele in ihrer Lebenssituation nicht erträglich und bestehende Angebote werden häufig nicht kontinuierlich aufgesucht. Dies erschwert wiederum den Zugang zu höherschwelligen Angeboten, da diese häufig über die Notschlafstellen vermittelt werden. Ohne eine gesicherte Wohnsituation wiederum ist eine Bearbeitung von komplexen Problemlagen und damit eine Stabilisierung der Lebenssituation der Frauen* häufig nicht möglich. So erschwert die Wohnungslosigkeit die weitere Hilfeplanung und trägt zu einer Verfestigung der prekären Lebenslagen bei.

Sperrgebiet

Das Sperrgebiet, Fachberatungsstelle Prostitution in Hamburg, ist seit den 1980iger Jahren eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Frauen* in der Sexarbeit, im Stadtteil St. Georg.

Durch eine Grundversorgung, wie z.B. Lebensmittelausgaben, die Kleiderkammer und die ärztliche Sprechstunde versorgt die Beratungsstellungsstelle somit vor allem Frauen* die im Stadtteil prekär leben und arbeiten.

Durch die allgegenwärtige Stigmatisierung und Diskriminierung des Arbeitsfeldes ist das Klientel auch in Bezug auf Wohnungslosigkeit in St. Georg besonders getroffen.

Öffentliche Unterbringungen werden meist, aufgrund von Angst vor Übergriffen und Outings des Berufes, nicht aufgesucht und frauenspezifische Alternativen sind kaum aufzutreiben.

Somit fordern wir:

  • Niedrigschwellige Unterbringungsmöglichkeiten für Sexarbeiter*innen
  • Zugänge mit Hilfesystem, auch für Menschen ohne Leistungsansprüche


BASIS-Projekt (Anlaufstelle für Mann-männliche Sexarbeiter*innen)

Mann-männliche Sexarbeiter*innen existieren in der öffentlichen Wahrnehmung nicht und sind aufgrund ihrer Tätigkeit, sexueller Identität und Herkunft häufig Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt. Insbesondere Sexarbeiter*innen mit einer Trans* oder nicht binären Identität nutzen selten die bestehenden öffentlichen Unterkunftsmöglichkeiten, da sie sich dort nicht akzeptiert und geschützt fühlen. Sexarbeiter*innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern haben ihren Lebensmittelpunkt oftmals bereits seit vielen Jahren in Hamburg, aber keine Zugänge zu einer stabilen und langfristigen Unterkunft, da keine Leistungsansprüche bestehen. Sie leben hier, fallen aber aufgrund fehlender Ansprüche durch das soziale Sicherungssystem. Trotzdem bleiben sie in Hamburg und leben hier unter sehr prekären Lebensumständen auf der Straße, häufig mit massiven gesundheitlichen Problemen. Sexarbeiter*innen mit Leistungsansprüchen fallen wiederrum durch ihre multiplen Problemlagen und Bedarfe durch das bestehende Hilfesystem, da sie ihre Tätigkeit selten offen thematisieren, weil sie die Folgen fürchten.

Daher fordern wir:

  • Altersunabhängige und längerfristige Unterkunftsmöglichkeiten für Menschen in der Sexarbeit!
  • Einen niedrigschwelligen Zugang zu bestehenden Unterkunftsangeboten und eine Erweiterung der geschützten Bereiche!
  • Zugänge zum Regelsystem, insbesondere eine kostenlose Krankenversicherung für Menschen ohne Ansprüche!

Einwohnerverein St. Georg von 1987 e.V.

Was den Drogenkonsument:innen hilft, das entlastet auch das Hauptbahnhofviertel! Mit dieser Erkenntnis haben wir in den 1990ern ein Jahrzehnt lang Drogenpolitik betrieben. Und mit dafür Sorge getragen, dass ein umfangreiches niedrigschwelliges Drogenhilfesystem geschaffen wurde. Es ist an der Zeit, eine ähnlich starke Kampagne auf den Weg zu bringen. Auch jetzt wieder heißt es, endlich mehr zu tun für die in St. Georg gestrandeten, verarmten, an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Menschen. Vor allem die Opfer der unübersehbaren Verelendung, die vermehrt aufkommenden bettelnden und hier quasi lebenden Bürger:innen bedürfen dringend nachhaltiger Unterstützung. Das heißt, dass sich Leistungs- und Hilfsangebote an den individuellen Lebensrealitäten und Bedürfnissen obdachloser Menschen orientieren müssen, weil sie tagtäglich in mehrfacher Hinsicht z. B. durch ihre Herkunft und Hautfarbe, ihrer Sucht, ihrem Geschlecht und/oder einer Behinderung von Diskriminierung und Ausgrenzung bedroht sind. Das zunehmend repressiv-verdrängende Vorgehen in der City lehnen wir dabei ab, es verschlimmert die Lage der Betroffenen und belastet zusätzlich die benachbarten Quartiere. Wir brauchen vielmehr eine wirkliche soziale und inklusive Wohnungspolitik, kurzfristig mehr kleine Notübernachtungsstätten und schnellere Schritte in Richtung auf eine Beendigung der Wohn- und Obdachlosigkeit – auch und gerade im Stadtteil St. Georg. Housing first!

Johann-Wilhelm-Rautenberg-Gesellschaft e.V.

Seit 2005 bietet die jwrg e.V. mit dem Wohnhaus „Münze“ 16 obdachlosen Menschen mit psychischer Erkrankung eine Wohnung (eigenes Bad, Gemeinschaftsküche) mit unbefristetem Mietvertrag von Anfang an. Ergänzende Hilfen können, müssen jedoch nicht angenommen werden. Die jwrg e.V. bietet neben anderen Unterstützungsleistungen Eingliederungshilfe an der Schnittstelle soziale Teilhabe und Wohnungslosenhilfe an.

Ein Einzug in die „Münze“ bedeutet meistens nach langer Zeit endlich wieder dauerhaft ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Einzug bedeutet i.d.R. aber auch ein jahrelanger Verbleib in der Münze, denn der Auszug in eine andere Wohnung gelingt Menschen mit langjähriger Erfahrung in Obdachlosigkeit und mit psychischer Erkrankung nur selten, da bezahlbarer Wohnraum knapp und die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt groß ist.

Die Nachfrage nach einem Angebot wie der „Münze“, das obdachlosen Menschen mit multikomplexen Problemlagen eine Perspektive bietet, ist immens. Gleichzeitig entsteht in St. Georg und Umgebung jedoch seit Jahren ein Hotel nach dem Anderen und große Gebäudekomplexe werden aufgekauft, um jahrelang leer zu stehen.

Im März 2023 startete die jwrg e.V. mit dem vom Deutschen Hilfswerk finanzierten Projekt „Housing 1st Rautenberg“. In drei Jahren wollen wir 15 obdachlosen Menschen mit multiplen Problemlagen in Wohnraum bringen. Wir wollen dazu beitragen, dass Housing First Prinzip in der Stadt zu etablieren, so wie es auch schon in vielen anderen Großstädten Europas gelungen ist.

Wir fordern deshalb:

  • Freie Liegenschaften der FHH für niedrigschwellige Wohnprojekte zur Verfügung zu stellen (z.B. leerstehende Gebäude nutzen)
  • Entstehung von bezahlbaren Quartieren mit einer fixen Quote von Wohnungen, die obdachlosen Menschen angeboten werden
  • Übernahme des Housing First Prinzips (unbefristeter Wohnraum für obdachlose Menschen von Anfang an, freiwilliges Angebot flankierende sozialarbeiterische Unterstützung) in die Regelfinanzierung
  • Unbürokratische Lösungen für den Zugang zum Hilfesystem für alle Menschen – ob mit oder ohne Leistungsanspruch

[1] https://www.agfw-hamburg.de/download/AGFW-Eckpunkte_Aktionsplan-Ueberwindung- Wohnungsloskeit.pdf

[2] https://www.hamburg.de/contentblob/12065738/5702405ed386891a25cdf9d4001e546b/data/d-obdachlosenstudie-2018.pdf

Rede auf der Obdachlosigkeit-Demo von Joscha Metzger am 15.04.2023

Hallo und Herzlich Willkommen im Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg.

Wie in vermutlich fast allen Hauptbahnhofvierteln dieser Welt konzentrieren sich in St. Georg die Problemlagen einer sozial gespaltenen Stadt. Armut, Elend, Drogenkonsum, Prostitution und Obdachlosigkeit treten hier ebenso in Erscheinung wie teure Geschäfte, Luxusimmobilien und neoliberale und autoritäre Politikansätze, die den Hauptbahnhof als „Visitenkarte“ der Stadt präsentieren wollen.

Der Kapitaldruck auf dem Stadtteil und daraus folgende Gentrifizierung sind hier ebenso tagtäglich zu spüren, wie polizeiliche Kontrolle und der Versuch, den Stadtteil durch behördliche Repression „sauber“ zu halten.

Als Einwohner*innenverein St. Georg setzen wir uns seit den 1980er Jahren für eine Politik ein, die soziale Lösungen für soziale Probleme sucht.

Spannungen, die sich aus den vielfältigen Widersprüchen einer kapitalistischen und polarisierten Stadt ergeben, können nur durch sozialen Ausgleich, durch eine Politik auf Augenhöhe abgefedert werden. Repression und Verdrängung erreichen nichts anderes, als eine räumliche Verschiebung der Problemlagen und erzeugen Trauer und Wut bei allen Beteiligten.

Wir schließen uns daher voll und ganz der Forderung an: Anstelle einer Aufrüstung der Polizei brauchen wir eine gemeinwohlorientierte Sozialarbeit. Sozialer gesellschaftlicher Ausgleich statt Repression!

 

Als Einwohner*innen in St. Georg befinden wir uns seit Jahrzehnten im Auge des Orkans des Immobilienkapitals.

Waren die Mieten hier im Stadtteil in den 1990er Jahren noch bezahlbar, ist die Wohnungssuche heute ein Alptraum geworden. Viele unserer Nachbar*innen haben Angst vor der nächsten Mieterhöhung, weil sie dazu führen wird, die Wohnung zu verlieren.

Für manche droht dann ganz konkrete Wohnungslosigkeit. Andere werden sich ganz woanders in der Stadt umgucken müssen, denn hier – in ihrem Lebensumfeld – werden sie keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden.

Verdrängung von Obdachlosen, Angst vor dem Wohnungsverlust und horrend steigende Mieten sind alles Erscheinungen desselben Problems: In unserer Gesellschaft wird Wohnen als Kapitalanlage gehandelt, Wohnraum über den Markt vermittelt.

Wir sagen: Das muss ein Ende haben. Wohnen ist eine Sache der Daseinsversorgung. Wir müssen endlich übergehen zu einer Vergesellschaftung der Wohnungsversorgung.

 

In diesem Sinne fordern wir:

  • Eine ernsthaft soziale Wohnungspolitik, die alle Mittel in Bewegung setzt, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen
  • Die Ausweisung von Flächen für Notübernachtungen und Zelten sowie die Öffnung von leerstehendem Wohnraum für Menschen in Situation der Wohnungs- und Obdachlosigkeit – auch und gerade hier im Stadtteil St. Georg
  • Praktische Konzepte für eine Beendigung der Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030. Housing First statt Repression und Verdrängung!

 

Und schließlich fordern wir als Einwohner*innenverein – so wie es auch von vielen anderen Stadtteilinitiativen Hamburgs gefordert wird –:

Die Ermöglichung von Stadtteildemokratie, Partizipation und Selbstverwaltung, damit wir als Menschen vor Ort über unsere Bedürfnisse und Bedarfe selbst bestimmen und dafür sorgen können, dass alle das bekommen, was sie zu einem guten Leben brauchen.

Positionspapier zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats

Das sind die Punkte, die der Einwohnerverein auf der vom Bezirk einberufenen Versammlung zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats St. Georg am 5. April einbringen will:

Positionspapier zur „Neuausrichtung“ des Stadtteilbeirats St. Georg
anlässlich der Bezirk-Mitte-Veranstaltung am 5.4.2023 in der Paula

  1. Wir sprechen uns für einen selbstbewussten, starken Stadtteilbeirat aus, der als Säule der Stadtteildemokratie die Interessen und Bedarfe der St. GeorgerInnen diskutiert, zusammenfasst und per Antrag an die entsprechenden Stellen (Bezirk, Senat…) weiterreicht.
  2. Ernst gemeinte, demokratische Beteiligung setzt bestimmte Standards voraus:
  3. * jährlich 10 Sitzungen, auch gerne etwas kürzer,
    * professionelle Moderation,
    * professionelle Protokollführung,
    * regelmäßige Beteiligung von Bezirksamtsvertreter:innen,
    * darüber die Weiterverfolgung der Beiratsanliegen und -beschlüsse.
  4. Wir wollen keine Verkleinerung des Stadtteilbeirats mit seinen bisher 18 stimmberechtigten Mitgliedern. Eher kann daran gedacht werden, diese Zahl zu erhöhen oder ggfs. – wie in vielen anderen Beiratsgremien üblich – alle Anwesenden als stimmberechtigt zu betrachten, wenn sie – sagen wir – dreimal auf einer Beiratssitzung zugegen waren. Dieser Punkt ist ebenso diskutabel, wie die Idee, dass BezirkspolitikerInnen auf der Beiratssitzung kein Stimmrecht haben, da sie ja die Haltung des Stadtteils kennenlernen sollen, um darüber auf bezirklicher Ebene dann weiterzuverhandeln.
  5. Wir wollen und benötigen eine aktive Beteiligung von BezirksamtsvertreterInnen, die auch regelmäßig über stadtteilbezogene Entwicklungen informieren und die Umsetzung der Empfehlungen verfolgen Das vom Bezirk laut Beschluss des Hauptausschusses vom 31.1.2023 anvisierte „Ziel selbsttragender Strukturen“, also die „Übernahme vollständiger Eigenverantwortung“ in dem vom Bezirk gemeinten Sinne lehnen wir ab.
  6. Wir wollen keine Verkleinerung des Stadtteilbeirats mit seinen bisher 18 stimmberechtigten Mitgliedern. Eher kann daran gedacht werden, diese Zahl zu erhöhen oder ggfs. – wie in vielen anderen Beiratsgremien üblich – alle Anwesenden als stimmberechtigt zu betrachten, wenn sie – sagen wir – dreimal auf einer Beiratssitzung zugegen waren. Dieser Punkt ist ebenso diskutabel, wie die Idee, dass BezirkspolitikerInnen auf der Beiratssitzung kein Stimmrecht haben, da sie ja die Haltung des Stadtteils kennenlernen sollen, um darüber auf bezirklicher Ebene dann weiterzuverhandeln.
  7. Der Gewinnung neuer Besucher:innen – insbesondere aus den Bereichen unterrepräsentierter Gruppen wie MigrantInnen, junge Menschen usw. – stehen wir natürlich positiv gegenüber.
  8. Der Beirat muss in seiner Schwerpunktsetzung und Themenfindung selbstverständlich autonom entscheiden können. Eine Beschränkung seiner Themen – in der Formulierung des Hauptausschusses vom 31.1.2023 wird das mit den Worten „Konzentration auf Aufgaben in der Stadtentwicklung“ umschrieben – lehnen wir ab.
  9. Die Praxis, Beschlüsse des Stadtteilbeirats lediglich „zur Kenntnis zu nehmen“, widerspricht dem Ernstnehmen engagierter Beiratsarbeit und -ergebnisse und führt auch die Entscheidungskompetenz des Bezirks ad absurdum. Wir wollen klare Stellungnahmen.
  10. Eine neue Geschäftsordnung brauchen wir nicht, für die Aushandlung der alten, also gültigen haben wir ein Jahr benötigt. Angezeigt sind allenfalls redaktionelle Änderungen. Die womöglich beabsichtigte Streichung des bisherigen Passus, in dem dem Beirat die Möglichkeit von Statements an die diejenigen Stellen und Akteur:innen eingeräumt wird, die er für angemessen hält, lehnen wir ab.
  11. Eine weitere Debatte oder gar eine Beschlussfassung über einen „neu ausgerichteten“ Beirats darf es ohne Beteiligung des bisherigen Stadtteilbeirats nicht geben. Es ist mehr als nur eine einmalige Diskussion und Ideensammlung nötig, um eine „Neuausrichtung“ des ältesten Hamburger Gremiums dieser Art mit den vor Ort engagierten Menschen auf Augenhöhe zu vereinbaren.

Einwohnerverein St. Georg von 1987 e.V.